Vorwort |
Manche Kinder haben beim Erlernen von Mathematik keine Schwierigkeiten, anderen hinge-gen fällt das Rechnenlernen besonders schwer. Häufig führt das zur Beunruhigung von Kin-dern, Eltern und Lehrern. Dabei fallen verschiedenste Ursachen auf, die diagnostiziert werden können. Es gibt unterschiedliche Therapieformen, welche Kinder beim Rechenlernen unter-stützen sollen und bei vorliegendem Befund von den Krankenkassen übernommen werden. Dazu zählt auch die psychomotorische Intervention. <br />Innerhalb der Dissertation wird eine Überprüfung zur Wirksamkeit psychomotorischer Übun-gen vorgenommen, aufgezeigt an zwei Dyskalkulikern unter Berücksichtigung des Teilphä-nomens Wahrnehmungsstörungen. Bei den betroffenen Jungen wurde dieser Teilbereich als Störung für das Rechnenlernen und damit als lernbehindernd diagnostiziert. Innerhalb des Dissertationsvorhabens wird auf zwei Ebenen gearbeitet: Anhand der Literatur soll die The-matik erarbeitet werden. Im Zuge des Praxisteils wird überprüft, ob eine gezielte psychomoto-rische Förderung die Rechenfähigkeiten bei zwei Jungen mit Dyskalkulie positiv beeinflussen kann. <br />Eine Förderung durch psychomotorische Intervention ist seit vielen Jahren eine anerkannte und wirkungsvolle Option, um Kindern mit Entwicklungsverzögerungen zu helfen. Dabei wird ein enger Funktionszusammenhang zwischen psychomotorischen und kognitiven Vari-ablen angenommen, und es wird davon ausgegangen, dass durch Bewegung schulische und außerschulische Lernanforderungen besser bewältigt werden können. Umso mehr verwundert es, dass es kaum Veröffentlichungen gibt, die gemeinsam „psychomotorische Interventionen“ und „Dyskalkulie“ thematisieren. Folglich gibt es auch kaum Studien und empirische Belege darüber, ob und in welcher Form psychomotorische Übungen ein geeignetes Fördermittel bei Dyskalkulie darstellen. <br />Schon KEPHART (1977a) wies daraufhin, dass es bei Kindern zu Schwierigkeiten kommt, mit Gruppierungsphänomenen umzugehen, wenn sie keine adäquate räumliche Welt entwi-ckelt haben (vgl. KEPHART 1977a, 126). Bezogen auf die Bedeutung des Raum-Zeit-Begriffs für den Schulerfolg konstatiert BERTRAND (1982), dass eine altersgemäße Ent-wicklung in diesem Bereich dem Kind erleichtert, den Zahlenraum zu verstehen. So sind bei-spielsweise Raum-Zeit-Begriffe für euklidische Geometrie unerlässlich (vgl. BERTRAND 1982, 142).<br />Auch in der neueren Literatur wird immer wieder darauf hingewiesen, dass Körperschema und Raumorientierung wichtig für mathematisches Verständnis sind, denn mathematische Beziehungen sind räumlicher Natur. So sind beispielsweise Kenntnisse der Dimensionen oder ein Rechts-Links-Verständnis für Mathematik erforderlich (vgl. LORENZ 2005b, 170). Auch VON ASTER et al. (2005) betonen diesen Zusammenhang. Wenn ein Mensch seinen Körper als zentrales Bezugssystem gut kennt und wahrnimmt, kann er sich leichter im Außenraum zurechtfinden und somit die räumliche Natur von Zahlen und mathematischen Beziehungen begreifen. Die Entwicklung mathematischer Kompetenz und Reifung entsprechender Hirn-funktionen stellt einen Prozess dar, der sich in der jeweiligen soziokulturellen Umwelt aus-prägt (vgl. VON ASTER et al. 2005, 614ff).<br />Es gibt die verschiedensten Erklärungsversuche und darauf basierende Therapieversuche für die Dyskalkulie. Obwohl es gute Gründe gibt, anzunehmen, dass ein enger Zusammenhang zwischen der Entwicklung der Motorik und den Möglichkeiten, mathematische Fähigkeiten zu entwickeln, besteht (z.B. in Anlehnung an PIAGET & SZEMINSKA 1975), ist innerhalb der Forschung dieser Aspekt bisher nicht systematisch verfolgt worden. Die vorliegende Dis-sertation wird für die Überprüfung genutzt, inwiefern sich die Ansätze psychomotorischer Übungen auf eine Verbesserung von Rechenfähigkeiten bei Kindern bzw. Jugendlichen mit Dyskalkulie auswirken. Somit ist diese Arbeit als prozessorientiertes Teilergebnis eines An-näherungsversuches an das genannte Thema zu verstehen.<br /><br /><br />1.2 Begründung für die Dissertation<br />Forschungsleitend ist das fokussierte Anliegen, anhand einer genauen Betrachtung und Ana-lyse des Phänomens Dyskalkulie, unter der Betrachtung von Wahrnehmungsstörungen, die Möglichkeiten psychomotorischer Interventionen zu beleuchten und darauf aufbauend hand-lungspragmatische Vorgehensweisen zu diskutieren. Dies allerdings setzt in erster Linie vor-aus, dass ein strenges Diagnosekriterium gewährleisten muss, auf welche Ursachen eine Dyskalkulie zurückgeführt werden kann. Erst durch eine genaue Diagnose und Eingrenzung der Symptome bzw. Schwächen werden die individuellen Stärken ermittelt und die Symptome systematisch beeinflusst. Es ist unbestreitbar schwierig und meist gar nicht möglich, DIE Ur-sache für eine Dyskalkulie auszumachen (dies wird im späteren Verlauf noch ausführlicher wiedergegeben). Daher ist es umso wichtiger, eine möglichst sorgfältige Diagnose zu erstel-len, um dem jeweiligen Kind individuell zu helfen und die entsprechenden Defizite aufzuar-beiten (vgl. LENART et al. 2003, 101). <br />In der vorliegenden Arbeit wird das Diagnoseverfahren, welches bei beiden Fallstudien durchgeführt wurde, als Konstruktbasis für den eigenen Rahmen genutzt. So können eine für die Arbeit relevante Definition und individuumsbezogene Faktoren in Hinblick auf Wahr-nehmungsstörungen unter Berücksichtigung neuropsychologischer Ursachen abgeleitet wer-den. <br />Vorhandene Störungen in den einzelnen Wahrnehmungsbereichen beeinflussen die mathema-tischen Lernprozesse. Bei Kindern mit Störungen im Bereich taktil-kinästhetischer, visuo-motorischer und visuell-räumlicher Syntheseleistungen werden häufig bei normaler Intelli-genz Lernschwierigkeiten in Mathematik festgestellt. Schon 1952 konstatierte GELLER: „Das Rechnen ist ein Denkakt, der in seinen Voraussetzungen und sprachlich-schriftlichen Ausdrucksformen Wahrnehmungen und Vorstellungen verschiedener Kreise zusammenfasst und umfasst. Zu akustischen fügen sich optische, räumliche und motorische Vorstellungen. Der Rechenakt ist auch in all diesen Kreisen verwundbar.“ (GELLER 1952, 193).<br />Es war lange Zeit umstritten, ob eine Lernbehinderung durch motorische Koordination ver-bessert werden kann. KAVALE und MATTSON (1983) zeigten in ihrer Überblicksarbeit, dass eine alleinige motorische Förderung die schulischen Leistungen nicht verändern kann (vgl. KAVALE & MATTSON 1983, 166ff). CRATTY et al. (1991) stellten bei einer Unter-suchung fest, dass Zusammenhänge zwischen motorischen Beeinträchtigungen und schuli-schen Leistungen im Lesen und Rechnen bestehen und plädierten für eine körperbezogene Förderung (vgl. CRATTY et al. 1991, 173).<br />FRITZ (1987) betont die Notwendigkeit von Wahrnehmung und Motorik für erste Lernerfah-rungen. Sie weist darauf hin, dass Wahrnehmungs- und Koordinationsstörungen zu einer Be-einträchtigung der Bildung früher Lernerfahrungen führen und damit auch Auswirkungen auf den weiteren Entwicklungsprozess haben (vgl. FRITZ 1987, 57). Auch PIAGET und SZE-MINSKA (1975) bemerken, dass beim elementarsten Wahrnehmungskontakt mit Objekten das Prinzip der Differenzierung zwischen Quantität und Qualität gesucht wird. Dabei schrei-ben jede Wahrnehmung und jede konkrete Beurteilung den Gegenständen Qualitäten zu und setzen sie in Beziehung zueinander (vgl. PIAGET & SZEMINSKA 1975, 24). <br />Für SCHIPPER (2001) gehören taktile, akustische und visuelle Wahrnehmungsstörungen, sensorische Integrationsstörungen, zerebrale Funktionsstörungen, einseitige Hirnhemisphä-rendominanz, linkshirniges Denken und kortikale Assoziationsdefizite dazu (vgl. SCHIPPER 2001, 18). <br />ROURKE (1993) geht davon aus, dass neuropsychologische Schwächen in der taktilen Wahr-nehmung, Psychomotorik und in der Organisation der Wahrnehmung die kognitiven Funktio-nen auf späteren komplexeren Entwicklungsstufen negativ beeinflussen, insbesondere dieje-nigen Funktionen, die nicht durch mechanische Sprachfunktionen leicht reguliert werden können, wie beispielsweise nonverbale Analysen und Synthesen höherer Ordnung (vgl. ROURKE 1993, 214ff). Auf seine Ergebnisse wird in Kapitel 2 näher eingegangen. <br />Neuere Ansätze zur Erklärung von Dyskalkulie beziehen sich darauf, dass sich bestimmte Störungen kognitiver Faktoren als die Rechenleistung beeinträchtigend ergeben: Störungen im taktil-kinästhetischen Bereich (Störungen des Körperschemas, Schwierigkeiten der Rechts-Links-Unterscheidung, Raumorientierungsstörung und somit Beeinträchtigungen der Rechenfähigkeiten), der auditiven Wahrnehmung, Speicherung und Serialität (Schwierigkei-ten bei der Speicherung von Zahlen, Aufgaben oder Zwischenergebnissen bei Kopfrechenauf-gaben, Schwierigkeiten der Vorstellung räumlicher Beziehungen und der Eins-zu-eins-Zuordnung), der visuellen Wahrnehmung sowie der Intermodalität (vgl. LORENZ 2005b, 170f). <br />Auch Schädigungen parietaler Hirnareale im Bereich des Gyrus angularis werden immer wie-der für die Entstehung einer Dyskalkulie verantwortlich gemacht. Ergebnisse mit funktionell bildgebenden Verfahren belegen, dass die semantische (parietale) Zahlenverarbeitung in un-mittelbarer hirnanatomischer Nachbarschaft zu Fingermotorik und visuell-räumlichen Prozes-sen erfolgt (vgl. BUTTERWORTH 1999, 245). Dabei wurde schon frühzeitig auf den Zu-sammenhang zwischen visuell-räumlichen Fähigkeiten und mathematischem Theoriever-ständnis hingewiesen (vgl. auch HARRIS 1978; MURRAY 1988). Die visuell-räumlichen Fähigkeiten bilden notwendige Voraussetzungen eines räumlichen Vorstellungsvermögens und damit auch die Voraussetzung für das Erlernen mathematischer Fähigkeiten. KUCIAN (2005) untersuchte die Entwicklung zerebraler Zahlenrepräsentationen und legte bei ihren Untersuchungen besonderen Schwerpunkt auf den Zusammenhang mathematischer und visu-ell-räumlicher Fähigkeiten. Sie fand heraus, dass Kinder ab acht Jahren für die Verarbeitung von Zahlen- und visuell-räumlichen Aufgaben ähnliche neuronale Netzwerke in okzipitalen, parietalen und präfrontalen Regionen wie Erwachsene aktivieren und sich dabei entwick-lungsbedingte plastische Veränderungen innerhalb dieser Netzwerke beobachten ließen (vgl. KUCIAN 2005, VIIf).<br />In der Literatur über Dyskalkulie sind oftmals Tendenzen zu finden, dass der mathematische Sinnzusammenhang auf Sinneserfahrungen zurückzuführen ist und dass sich Zahlkonzepte aus sensomotorischen Schemata entwickeln. Mathematische Konzepte werden als „natürli-che“ Destillate der Sinneswahrnehmung konzeptualisiert. Das Kind stellt Sinn und Zusam-menhänge her und beginnt, sie allmählich mathematisch zu deuten. Dabei ist eine ungestörte Entwicklung der Basisfunktionen Sensorik, Motorik und die zentrale Verarbeitung Grundlage für erfolgreiches Mathematiklernen und somit auf ein funktionierendes sensomotorisches Fundament angewiesen (vgl. KESPER 2006, 35). <br />Um sinnlich verarbeiten zu können, muss eine sensorische Integration stattgefunden haben. Auf ihr basierend ist dann eine sinnliche Wahrnehmung möglich, also die taktile, kinästheti-sche, vestibuläre, auditive und visuelle Wahrnehmungsverarbeitung. Dyskalkuliker besitzen häufig Defizite in der Wahrnehmung, sensorischen Integration und Motorik, da oftmals der sensomotorische Unterbau für das Anbahnen von Rechnen, und natürlich auch höherer ma-thematischer Leistungen, fehlt. Lern-, Wahrnehmungs- und Bewegungsstörungen wirken sich negativ auf die kognitive Entwicklung aus. <br />KÖCKENBERGER (2002) geht davon aus, dass Dyskalkuliker durch psychomotorische För-derung kognitive Lerninhalte besser begreifen lernen, da derartige Interventionen konkrete Wahrnehmungs- und Handlungsmuster beinhalten (vgl. KÖCKENBERGER 2002, 59). Kin-der erleben mathematische Zusammenhänge durch gezielte Bewegungen dreidimensional. Mathematik wird so durch den ganzen Körper und mit allen Sinnen erlernt (vgl. MAAK & WEMHÖHNER 2007, 7).<br />Schon CRATTY (1975) wies auf den großen Einfluss des Wahrnehmungsprozesses und der sensorischen Hinweisreize auf die Bewegung hin (vgl. CRATTY 1975, 11). PICQ & VAYER und CRATTY untersuchten den Effekt der Bewegungsmethode auf das Erlernen von Buch-staben und Zahlen. Es gab eine Testgruppe, Placebogruppe und Kontrollgruppe. Sechsmal wöchentlich für jeweils 30 Minuten wurden die Lerneinheiten durchgeführt, die Überprüfung fand durch einen Vorher-Nachher-Vergleich nach jeweils zwei, vier, sechs und acht Wochen statt. Die Testpersonen konnten sich frei im Unterrichtsraum bewegen. Sand, Steine, Papp-blöcke, Farbkreiden und Tafeln waren Untersuchungsgegenstände, der Testleiter schrieb Zah-len und Buchstaben auf jeweils eins der Materialien. Die Placebogruppe erhielt eine gleich-mäßig abwechselnde Verwendung der Bewegungsmethode und der traditionellen Unter-richtsmethode, die Kontrollgruppe wurde ausschließlich nach der konventionellen Methode unterrichtet (vgl. BHULLAR & CRATTY 1989, 4). Von den drei überprüften Gruppen zeigte die Testgruppe hinsichtlich der Zahlen und Buchstaben den größten Lernerfolg. Dieses Er-gebnis wurde als Folge der Bewegungsmethode angesehen (vgl. BHULLAR & CRATTY 1989, 7).<br />Eine adäquate Förderung ist also sinnvoll, um die Umwelt besser zu erschließen, kompetent mir ihr umzugehen und Raumstrukturen zu verinnerlichen. Ein räumlich-zeitliches Orientie-rungssystem wird aufgebaut, ein Kind kann so durch Wahrnehmung und Bewegung in seiner materialen und sozialen Umwelt seine praktische und begriffliche Intelligenz entwickeln (vgl. HAAS & WENDLER 2001, 203f). Letztendlich werden in Hinblick auf die vorliegende Ar-beit durch gezielte psychomotorische Übungen bestenfalls ganzheitliche Lernprozesse in Gang gesetzt, wodurch abstraktes, von der konkreten Handlung losgelöstes Denken ermög-licht werden kann (vgl. HÖHNE 2001, 228).<br />Das Bestreben ist somit, mit Hilfe psychomotorischer Interventionen einen Zugang zum Kind bzw. Jugendlichen zu erreichen. Dabei soll den Fragen nachgegangen werden, ob es einerseits gelungen ist, eine theoretisch fundierte therapeutische Konzeption zur psychomotorischen Intervention von Kindern bzw. Jugendlichen mit Dyskalkulie darzustellen. Andererseits, ob es möglich ist, in einer, in der Praxis entwickelten Konzeption, die Kompetenzen und Ressour-cen zu fördern und die Wahrnehmung zu schulen. <br /><br /><br />1.3 Problemstellung der Dissertationsstudie<br />In der vorliegenden Dissertation werden die Auswahl der Therapieschwerpunkte und die Zielausrichtung der psychomotorischen Arbeit auf dem Hintergrund einer Dyskalkulie erfolgen. Im konkreten Fall muss sich daher die Therapieplanung auf die Bereiche konzentrieren und reduzieren, die dem therapeutischen Einfluss unterliegen. <br />Eine Analyse über Zusammenhangsannahmen ist dabei unerlässlich. Die erforderlichen Kom-petenzen geben die Thematik des psychomotorischen Angebots vor. Die Wirkhypothesen sind vielfältig – das Gehirn kann bei frühkindlichen Hirnschädigungen zur Nachreifung angeregt werden, eine Verbesserung der Bewegungsfunktion kann bei motorisch schwachen Kindern und Jugendlichen zu neuem Selbstvertrauen führen und das Erlernen einer Bewegungsbeherr-schung kann zu<br /> größerer Selbstbeherrschung führen (vgl. AMFT 2001, 29). <br />Was die Wirkung einer gezielten psychomotorischen Intervention auf Rechenfähigkeiten bei einer vorliegenden Dyskalkulie angeht, so gibt es bisher keinerlei spezifische Forschungen auf diesem Gebiet. Es kann somit konstatiert werden, dass das Thema der Dissertation nicht ausreichend empirisch dokumentiert ist. Angesichts der Tatsache, dass schon seit längerer Zeit Zusammenhänge und Abhängigkeiten postuliert werden, ist die bescheidene Anzahl ent-sprechender quantitativ-empirischer Analysen verwunderlich. So fallen in der klinischen Be-obachtung häufig das gemeinsame Auftreten sensorischer Integrationsstörungen / Wahrneh-mungsstörungen und einer Dyskalkulie auf. Dabei haben die Betroffenen beispielsweise Prob-leme in der taktilen Unterscheidung von Reizen, taktil-kinästhetischen Wahrnehmung oder Raum-Lage-Wahrnehmung (vgl. LORENZ 2005b, 170f; SOLTÉSZ et al. 2007, 185). <br />Bisher gibt es keine allgemein akzeptierte Definition von Dyskalkulie, aus der sich ein streng empirisches Vorgehen ableiten lässt. In der vorliegenden Dissertation soll das Problemfeld durch ein Basiskonstrukt determiniert werden, welches das Untersuchungsfeld auf das Teil-phänomen Wahrnehmungsstörungen eingrenzt. Nach Meinung der Autorin besteht auf diesem Gebiet dringender Forschungsbedarf. Die Forschung auf dem Gebiet des Dissertationsvorha-bens ist ein laufender Prozess und gilt als nur unzureichend gesichert. Einige Studien zur Wirksamkeit psychomotorischer Übungen beschäftigten sich mit der Verbesserung der Intel-ligenzleistung bzw. mit positiven Effekten auf Kognition und Perzeption und beleuchteten den Funktionszusammenhang. Darauf wird unter Punkt 7.5 näher eingegangen. <br />Mathematisches Erkennen und Denken bedient sich zahlreicher kognitiver Funktionen. Dabei spielen visuell-räumliche und zeitliche Wahrnehmung und Gedächtnisleistungen eine große Rolle. Dennoch muss in diesem Zusammenhang eines verdeutlicht werden: Es gibt nach dem derzeitigen Stand der Forschung keine Untersuchungen, welche einen generellen ursächlichen und unmittelbaren Zusammenhang zwischen fehlenden basalen Fähigkeiten und mathemati-schem Lernen nachweisen. So stehen evaluierbare Ergebnisse bei Dyskalkulie vor allem im Bereich Wahrnehmungsstörungen noch aus. Es existiert zwar eine Fülle an nationaler und internationaler Literatur, welche sich eingehend mit Dyskalkulie und fehlerbehebenden Tech-niken beschäftigt, allerdings noch ohne maßgeblichen Erfolg. <br />Was Dyskalkulie betrifft, so sind die Kenntnisse über Ursachen und Grundlagen nach wie vor lückenhaft. Kognitive und neuronale Mechanismen im Bereich der einfachen Arithmetik, welche zu den problemlösenden Merkmalen von Kindern beitragen, werden immer noch nicht völlig verstanden. Wenn der Fortschritt der letzten zehn Jahre betrachtet wird, dann sind vor allem bedeutende Vorstöße in den kommenden Jahren zu erwarten (vgl. GEARY 2004, 13).<br />Des Weiteren gab es aufgrund der Komplexität der Gehirnforschung im Zusammenhang mit Dyskalkulie bisher nur wenig Fortschritte, um geeignete Maßnahmen bei Dyskalkulie entwi-ckeln zu können (vgl. ARDILA & ROSSELLI 2002, 227). Einen Überblick geben u. a. auch COCH et al. (2007), DÜRRE (2001), GEARY (2004), GRISSEMANN & WEBER (2000), JORDAN & MONTANI (1997), OSTAD (1999), SHALEV et al. (2005). Diese lassen durch-aus den Schluss zu, dass es bisher, trotz weltweiter Anstrengungen, nicht gelungen ist, gesi-cherte evidenzbasierte Maßnahmen zu entwickeln, die zumindest für manche Unterformen von Dyskalkulie geeignet wären. Trotz einiger neuer Erkenntnisse besteht für den Bereich Dyskalkulie ein umfassender Forschungsbedarf. Es existieren nur wenige Studien über Lang-zeitverläufe, Wechselbeziehungen der Ursachen und vor allem hirnorganische Korrelate, da erst in den letzten Jahren die Wissenschaft für das Phänomen Dyskalkulie sensibler wurde. <br />Trotz vieler Einzelforschungen fehlt eine wissenschaftliche Aufarbeitung, darüber hinaus darf die Komplexität des Effektivitätsnachweises psychomotorischer Interventionen nicht unter-schätzt werden. Schon KIPHARD (1992) wies darauf hin, dass sich ein wissenschaftlicher Effektivitätsnachweis psychomotorischer Förderinterventionen als sehr schwierig erweist, da sich die Variable „Psychomotorik“ nicht so ohne weiteres operationalisieren lässt (KIPHARD 1992, 173ff). Daran hat sich bis heute nichts geändert. <br />Es darf nicht unerwähnt bleiben, dass über Konzepte und Programme zum psychomotorischen Training eine schier unübersehbare Flut von Veröffentlichungen existiert, die nationale und internationale Fachliteratur allerdings deutlich eingeschränkter wird, wenn man sich auf die Suche nach Veröffentlichungen begibt, die Aussagen über die Effektivität psychomotorischen Trainings bei Dyskalkulie haben.<br />Die Annäherung an das Gebiet der Dyskalkulie war determiniert vom Ziel, hilfreiche Ansatz-punkte für eine individuelle Hilfestellung betroffener Kinder bzw. Jugendlicher durch eine verbesserte Praxis zu finden. Eine fundierte Erarbeitung des theoretischen Hintergrundes und eine umfassende, ausreichend dokumentierte Literaturarbeit sind dabei unerlässlich. Innerhalb der Dissertation muss es somit um eine Auseinandersetzung mit dem theoretischen Hinter-grund der Thematik und ihrer praktischen Anwendung gehen. In der vorliegenden Dissertati-on soll bestimmten Fragestellungen nachgegangen werden, die später das praktische Vorge-hen rechtfertigen.<br />Welche gesicherte Beziehung existiert zwischen psychomotorischen Interventionen und den Grundwahrnehmungsbereichen? Wie ist diese theoretisch begründet?<br />In welcher Form wirken sich die psychomotorischen Übungen positiv und damit lernverän-dernd auf die Rechenaufgaben aus?<br />Allein die zusätzliche Förderung durch das vermehrte Rechnen kann zu Automatisierungspro-zessen führen, ohne dass dies mit den psychomotorischen Übungen zu tun hat. Es könnten sich schlicht durch die Förderung in beiden Bereichen positive Effekte einstellen, ohne dass sie mit einander zu tun haben. Lässt sich das aufklären?<br />Es können sich auch durch vermehrte Zuwendung, vor allem auf der Motivationsebene, posi-tive Effekte ergeben, wodurch besser gerechnet wird.<br />Welche Begründung auf theoretischer Ebene gibt es, weshalb ein Wahrnehmungsbereich in den ausgewählten Bereichen der Mathematik besonders wichtig/hilfreich/notwendig ist?<br />Die Beziehung Motorik – Mathematiklernen ist noch nicht hinreichend geklärt. Es gibt Ver-mutungen, aber kaum gestützte Befunde. Wie lässt sich ein Zusammenhang begründen?<br />Wie ist eine Kausalität zwischen gezielten psychomotorischen Interventionen und möglichen verbesserten Rechenaufgaben bei Dyskalkulie nachweisbar? Dass die Probanden im Laufe der Zeit Lernfortschritte erzielen, ist wahrscheinlich, aber wie ist es begründbar, ob dies in ir-gendeiner Weise mit der Art der Förderung zusammenhängt? <br />Wie diese psychomotorisch-mathematische Leistung in einem Test abgebildet werden kann, der auch testökonomischen Anforderungen genügt, ist eine offene Frage. <br />Ein weiteres Problem ist, dass auch parallele Entwicklungsverläufe einbezogen werden müs-sen und ihr Zusammenwirken mit der Entwicklung der mathematischen Fähigkeiten unter-sucht werden. Bisher gibt es dazu keinerlei Studien. Die Probanden unterliegen während der Testphase einer natürlichen Entwicklung, so dass es beispielsweise zu einer Fähigkeitszu-nahme innerhalb der mathematischen Schulleistungen kommen kann. Diese hängen außerdem auch mit der Qualität des Unterrichts zusammen, so kann sich ein Lehrerwechsel positiv auf die Rechenfähigkeiten auswirken – Kontextbedingungen in Unterricht, Schulklasse und auch im Elternhaus spielen deshalb ebenfalls eine Rolle.<br />Ist es also letztendlich überhaupt möglich, empirische Untersuchungen zur Wirksamkeit durchzuführen? Ist der Nachweis eines positiven Einflusses psychomotorischen Trainings auf kognitive Veränderungen, Selbstwirksamkeitswahrnehmung und Erfolgswahrscheinlichkeiten zu erreichen?<br />Und wie kann wissenschaftlich fundiert mit einem relevanten Rohergebnis umgegangen wer-den? Es gestaltet sich möglicherweise schwierig, einen Grad zwischen einer Systematisierung aufgrund vorgefasster Ideen und einer Inkohärenz zu finden, da sich in Teilen nur an Leit-hypothesen orientiert werden kann.<br />Abschließend ist zu erwähnen, dass die vorliegende Dissertation einen Brückenschlag zwi-schen den Polen „psychomotorische Übungen“ und „Dyskalkulie“ versucht, in dem Bemühen, ein bislang unerforschtes, aber durchaus lohnenswertes Feld zu betreten.<br />
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